Montag, 2. Dezember 2019

Unerhörte Stimmen - Elif Shafak

Zehn Minuten und dreissig Sekunden: so lange ist das menschliche Gehirn laut einer Studie nach dem letzten Atemzug noch aktiv. Und genauso viel Zeit hat Tequila Leila, um sich nochmals einige Erinnerungen ihres Lebens ins Gedächtnis zu rufen. Sie liegt in einer Mülltonne in Istanbul, tot, ermordet.
Sie denkt an Baklava, Pistazien und Sesamkrokant. Gerüche, die sie an ihre Kindheit in Van, ein kleines Dorf anderthalbtausend Kilometer von Istanbul entfernt, erinnert. Eine Kindheit, in der die Leichtigkeit nie Platz gefunden hatte und sowohl Mutter als auch die Tante nie wirklich diejenigen waren, die sie zu sein schienen. Sie denkt an den Geruch von schwarzem Kardamonkaffee, den Tequila Leila für «alle Zeiten mit der Straße der Bordelle verband». Von zu Hause abgehauen, alleine und ohne Geld in Istanbul. Von einem Mann hinters Licht geführt und dann als Sexarbeiterin verkauft. Nach fünf Minuten, der Geruch von Schwefelsäure, der Leila daran erinnert, dass ein verrückter Freier sie damals im Bordell mit dieser ätzenden Säure übergoss. Für immer gezeichnet und gerade deswegen attraktiver und interessanter für Bordellbesucher. Nach neun Minuten, Pralinen. «Pralinen mit verschiedenen Füllungen - Karamell, Kirsche, Nougat…». Die Erinnerung an D/Ali, den Studenten und Revolutionär, der Tequila Leila trotz ihres Berufes stets mit anderen Augen sah. Der Mann, den Leila heiratete. Die letzten acht Sekunden. Single Malt Whiskey - das letzte, was Leila in ihrem Leben zu sich nehmen würde.

Die fünf Freunde


Tequila Leila, selbst als Sexarbeiterin an den Rand der Gesellschaft gedrängt, hatte in ihrem Leben fünf Freunde. Sabotage Sinan, der Jugendfreund. Nostalgie Nalan, die Transfrau. Zaynab122, die kleinwüchsige Wahrsagerin. Hollywood Humeyra, geflohene Ehefrau und Sängerin. «Jamila, die Frau, die den Menschen in die Seele schaute und ihnen erst, wenn sie alles darin gesehen hatte, was sie sehen musste, ihr Herz öffnete». Fünf Freunde, die genauso wie Tequila Leila nicht in die Gesellschaft passten. Weil sie anders waren, eben nicht der Norm entsprachen. «Auf sich allein gestellt war jeder verwundbar; gemeinsam waren sie viel stärker».


Das andere Istanbul


In «Unerhörte Stimmen» machtElif Shafak auf das andere Istanbul aufmerksam. «Da war das hochherrschaftliche und das proletarische Istanbul, das weltoffene und das provinzielle, das kosmopolitische und das spießbürgerliche, das dekadente und das fromme […]. Und nicht zuletzt das Istanbul derer, die vor langer Zeit zu neuen Ufern aufgebrochen waren.» Auf humorvolle, stilistisch selbstsichere und nachdenkliche Art und Weise beschreibt das Buch in drei Teilen (Geist, Körper, Seele), wie die Welt auch gesehen werden kann. Es bringt den Leser dazu, sich selbst zu reflektieren, sowie die Denkweise einer Gesellschaft zu hinterfragen. Manchmal trügt der Schein und manchmal bringt bereits ein kleiner Gedanke die Unterteilung in «die unerwünschten, die unwürdigen und die unbekannten» ins Wanken.

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